URAUFFÜHRUNG am 20. Januar 2019

Das denkende Herz  

Ein Auftragswerk des Forum Theater

Unter der Schirmherrschaft von Muhterem Aras Mdl, Präsidentin des Landtags Baden-Württemberg 

Text: Olivier Garofalo
Musik: Marco Bindelli, Lena Sutor-Wernich

Schauspiel, Gesang:  Lena Sutor-Wernich
Regie: Ingeborg Waldherr
Bühne und Kostüme: Silvio Motta
Choreografie: Dagny Borsdorf
Dramaturgie: Anna Katharina Setecki

Statisterie: Florian Penkwitt, Mike Zimmermann

„…wenn wir dem Chaos hier nicht Trotz bieten, durch etwas Strahlendes und Starkes, das irgendwo an einem ganz anderen Ort völlig von Neuem beginnt, dann sind wir verloren. Ich werde den Weg zu diesem Neuen, Strahlenden finden.“

Wie kann man Unmenschlichkeit und Hass begegnen? Was lässt sich ausrichten gegen die feindliche Stimmung in der Welt? Diese heute wieder aktuellen Fragen stellte sich die jüdische Niederländerin Etty Hillesum bereits 1941. Immer und immer wieder horcht die junge Frau in sich hinein und schreibt Tagebücher, in denen sie sich selbst und die Geschehnisse in ihrer Umgebung unter dem unerbittlichen Terror der Nationalsozialisten reflektiert. Trotz der unfassbaren Schrecken in dieser Zeit gelingt es ihr, den Sinn und die Schönheit des Lebens zu erkennen. Sie reift zu einer immer stärkeren Persönlichkeit und findet ihren ganz eigenen Zugang zum Göttlichen: „Ich ruhe in mir selbst. Und jenes Selbst, das Allertiefste und Allerreichste in mir, in dem ich ruhe, nenne ich Gott.“

All ihr existenzielles Suchen gipfelt in der Frage, wie man trotz dieser Umstände seine Würde bewahren, ja, sogar stärken kann. Ihre Antworten sind Mitgefühl, Mitmenschlichkeit und Liebe — selbst für die äußeren und inneren Feinde.

Mit nur 29 Jahren wurde Etty Hillesum im November 1943 in Auschwitz ermordet. Die in ihren letzten beiden Lebensjahren verfassten Tagebücher wurden erst in den 80er Jahren veröffentlicht; eine Auswahl davon erschien in deutscher Übersetzung als „Das denkende Herz“. Dies ist auch der Titel der neu entwickelten Musiktheater-Fassung für eine Sängerin und einen Musiker, die Hillesums direkte, leidenschaftliche Sprache aufgreift und ihre geistige und seelische Entwicklung in ein sinnlich erfahrbares Erlebnis transferiert.

Fotos: Sabine Haymann

„Wir leben in einer Zeit, in der man die Kultur des Erinnerns nicht hoch genug schätzen kann. Die Schrecken des Nationalsozialismus mögen Jahrzehnte zurückliegen. Doch Hass, Ressentiments, antisemitische und fremdenfeindliche Strömungen gewinnen an Einfluss. Sie wirken in die gesellschaftlichen Diskurse hinein und werfen Fragen nach dem Zusammenhalt in unserer Gesellschaft auf. Das Grundgesetz und die Werte, die es verkörpert, geben Antworten auf diese Fragen. Artikel 1 unserer Verfassung lautet: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Etty Hillesum verkörpert diesen grundlegenden Wert durch ihren persönlichen Reifungsprozess und ihre Haltung zur Welt. Angesichts der Entmenschlichung im Nationalsozialismus verfällt sie nicht in Hass und Resignation. Sie findet stattdessen zu tiefem Glauben, auch an die unveräußerliche Würde des Menschen. Etty Hillesum zeigt exemplarisch, dass Werte erst lebendig werden, wenn wir sie leben. Solidarität, persönliche Integrität, Menschlichkeit: All das bewies diese junge Frau inmitten des Grauen des Holocausts und entwickelte eine Strahlkraft, die bis in unsere Gegenwart reicht.“

Muhterem Aras MdL

Präsidentin des Landtags von Baden-Württemberg

Alles fällt, nur die Liebe trägt

Uraufführung:  Mit „Das denkende Herz“ erinnert das Forum-Theater an die Autorin Esther Hillesum.  Brigitte Jähnigen

STUTTGART. Chronistin ihrer Zeit wollte sie sein. Doch wie schreiben, wenn die Zeit aus den Fugen geraten ist? Frei nach den Tagebüchern der Esther Hillesum (1914–1943) erlebte das Publikum am Sonntagabend bei einer Uraufführung im Forum-Theater die Adaption ausgewählter Texte Hillesums in einem fordernden, anspruchsvollen Musiktheaterstück von beeindruckender künstlerischer Qualität.
Lena Sutor-Wernich ist Esther, genannt Etty, eine sich zwischen Höchstanspruch und Selbstzweifeln bewegende junge Autorin, emanzipatorisch und verspielt. Ihr emotionaler Bezugspunkt ist S.: ein verheirateter Mann, den sie herbeisehnt und der als stummer Maskenträger ihre klaustrophobische Einsamkeit für Momente durchbricht. Werke der Weltliteratur türmen sich auf einem Podest in fragiler Anordnung. Sie rutschen durcheinander, als die Nazis in Holland einmarschieren.
Marco Bindelli kommentiert die Katastrophe mit Kaskaden auf dem Konzertflügel. Seine Kompositionen für Piano, Gong und kleine Harfe haben ebenso starke Illustrationskraft wie Sutor-Wernichs Gesangspartien, die mit Sprechsequenzen abwechseln. Nichts verspricht an diesem Abend in der Regie von Ingeborg Waldherr wohlig oder stabil zu sein.
Inspiriert von Daniel Libeskinds Entwurf „Between the Lines“ zum Jüdischen Museum Berlin, hat Silvio Motta die kleine Bühne mit simulierten fallenden Wänden ausgestattet. Gelbe Fußbodenstreifen führen von der Bühne durch den ansteigenden Zuschauerraum bis zum Piano. Lena Sutor-Wernich, meist barfuß und in ein zartes, feminines Gewand gekleidet, singt mit sanftem Mezzosopran von der Macht der Liebe.
Hinter der Bühne grollt der Krieg, stumme Diener in stilisierten Uniformen bringen Botschaften. Humor blitzt auf, wenn Ettys Vater in einem Schreiben das aktuelle Radfahrverbot der Nazis für holländische Juden mit einem Rückgriff auf die jüdische Geschichte kommentiert: „In der Wüste mussten wir auch 40 Jahre ohne Fahrrad auskommen.“
Später flattert der Deportationsbefehl in Esthers Leben. Die junge Intellektuelle teilt das Schicksal ihres Volkes; 1943 wird sie in Auschwitz-Birkenau ermordet. Der Luxemburger Olivier Garofalo hat die umfangreichen Tagebuchaufzeichnungen, die 1981 unter dem Titel „Das zerstörte Leben“ in niederländischer und 1983 in Deutschland als „Das denkende Herz der Baracke“ in deutscher Sprache veröffentlicht wurden, sehr knapp gefasst. Erinnert wird an eine fast übermenschlich standhafte Frau. Stuttgarter Zeitung, 22.01. 2019


„Das denkende Herz“ im Forum Theater

Von Gabriele Metsker

Wer war Etty Hillesum? Wer sich „Das denkende Herz“ im Stuttgarter Forum Theater angeschaut hat, wird den Namen nicht mehr vergessen. Neuer Premieretermin ist am 20. Januar.

Lena Sutor-Wernich spielt in „Das denkende Herz“ die Etty Hillesum.Foto: Sabine Haymann

Etty Hillesum war eine niederländisch-jüdische Lehrerin, die durch ihre posthum veröffentlichten Tagebücher viele Menschen berührt hat. Die Aufzeichnungen führen die Leser nicht nur in die Seelenlandschaft einer jungen, lebenslustigen Frau in den vierziger Jahren. Sie sind auch das Zeugnis von Rebellion und Widerstand gegen Hass und Gewalt, die sich auf ebenso ungewöhnliche wie eindrückliche Weise manifestieren.

Dass dieses besondere Dokument nun als musikalische Inszenierung auf die Bühne kommt, ist vor allem Lena Sutor-Wernich und Ingeborg Waldherr zu verdanken. Sutor-Wernich wird im Theaterstück „Das denkende Herz“ als Etty Hillesum sprechen und singen, das Konzept dazu hat sie gemeinsam mit Ingeborg Waldherr entwickelt, die auch Regie führt. Dritter im Bunde ist der Musiker Marco Bindelli. Er wird am Flügel sitzen und diesem auf jede erdenkliche – und unerdenkliche – Weise Klänge entlocken. Das Libretto hat Olivier Garofalo geschrieben.

Der Zufall hat mitgespielt

Wie so oft im Leben hat der Zufall mitgespielt, um diese Produktion entstehen zu lassen. Lena Sutor-Wernich hatte das Buch vor einigen Jahren bei Freunden im Regal entdeckt – und es spontan geschenkt bekommen. Als sie dann zu einem späteren Zeitpunkt gemeinsam mit Ingeborg Waldherr, mit der sie schon zuvor einiges realisiert hatte, nach einem neuen Projekt suchte, fiel ihr „Das denkende Herz“ wieder ein – und Ingeborg Waldherr war auf Anhieb überzeugt, ebenso wie Elke Woitinas, die Intendantin des Forum Theaters.

Aber wie macht man aus den alten Tagebuchaufzeichnungen einer jungen Frau ein fesselndes Bühnenstück für das Publikum von heute? „Tagebücher zu dramatisieren ist absolut nicht einfach“, sagt Ingeborg Waldherr, „kann aber Einschnitte in der Biografie zeigen. Reale Dinge, wie Verfolgung und Unterdrückung lassen sich darstellen. Doch es geht mir um den inneren Weg.“ Denn diesen wählt Etty Hillesum, um auf ihre eigene Art Widerstand gegen all das Schreckliche zu leisten, was um sie herum passiert.

Die Entscheidung fürs Konzentrationslager

Obwohl sie die Möglichkeit gehabt hatte unterzutauchen, entschied sich Etty Hillesum, ins Konzentrationslager zu gehen und mit den Menschen dort den schrecklichen Geschehnissen etwas entgegenzusetzen. Darin, da sind Ingeborg Waldherr und Lena Sutor-Wernich sich einig, war sie auf ihre Weise unglaublich radikal. Werte statt Waffen. „Systeme der Gewalt werden sich nicht ändern, solange der Einzelne nicht in seinem Inneren aufräumt“, umschreibt es Waldherr. Jeder hat es selbst in der Hand, wie sich die dunklen Ecken, die verborgenen Dämonen, in der eigenen Seele entwickeln.

Musik spielt eine wichtige Rolle

Lena Sutor-Wernich wird viele Passagen aus den Tagebüchern sprechen. Eine sehr wichtige Rolle spielt im Stück aber die Musik. „Sie soll auf keinen Fall Untermalung sein“, betont Marco Bindelli, „eher meditative Unterstützung.“

Wie man sich das vorstellen kann? „Musik ist vielleicht die Zeitkunst, die die menschliche Seele heute am meisten erreicht“, sagt Bindelli. „Es ist schwer, intensive Musik zu überhören.“ Manches, was Worte allein nicht zu vermitteln vermögen, kann auf diese Weise „durchklingen und die Tür zu einer anderen Spiritualität öffnen“. Dazu wird Bindelli nicht nur, wie er lachend sagt, mit dem Flügel „anstellen, was geht“. Auch einen Psalter möchte er einsetzen.

Lena Sutor-Wernich wiederum wird die ganze Bandbreite der Möglichkeiten ihrer professionell ausgebildeten Gesangsstimme ausschöpfen. „Ich möchte dem Wort zusätzliche Schichten verleihen. So wird das hörbar, was darunterliegt.“ Weil beide nach einem vorgegebenen Rahmen improvisieren, wird kein Abend wie der andere sein.

Kulturreport der Stuttgarter Zeitung, Januar 2019